Stirb, bevor du stirbst.
- Nicolas Herting
- 23. Apr.
- 15 Min. Lesezeit
Ostern ist vorbei und der Papst ist tot. Für die einen markiert das den alljährlichen Tiefpunkt, für die anderen den absoluten Höhepunkt des Jahres. Für viele Christen sind diese Tage – abgesehen von Weihnachten – die zentralen Feiertage überhaupt. Wobei Weihnachten für viele Menschen heute kaum noch etwas mit der Geburt Jesu zu tun hat.
Zurück zu Ostern: Im Mittelpunkt steht die Kreuzigung Jesu, ein Ereignis von tiefgreifender spiritueller und emotionaler Bedeutung. Doch es gibt einen Aspekt dieser Geschichte, der immer wieder kritisch betrachtet wird: die Verbindung von Schuld mit dem Opfer Jesu. Die Erbsünde – symbolisiert durch den Apfel, den Adam und Eva nach Überredung durch die Schlange gegessen haben. Jesus ist für unsere Sünden gestorben. Aber was bedeutet das eigentlich?
Je nach Glaubensrichtung gibt es dazu ganz unterschiedliche Interpretationen. In den ersten Jahrhunderten nach der Kreuzigung herrschte unter den Christen offenbar große Erleichterung: Die alten Sünden waren durch Jesus getilgt, die Menschheit von Schuld befreit. Es gab damals noch keine organisierte Institution Kirche; vielmehr war es eine Zeit der Befreiung, in der alles Vergehen – vor allem die Erbsünde – vergeben war.
Sünde und Schuld – irgendwie weiß doch jeder, was damit gemeint ist. Aber was bedeuten diese Begriffe eigentlich genau? Mehr dazu findest du in einem anderen Blogbeitrag.
Nach dem Opfer Jesu lebten die ersten Christen in einer neuen Freiheit: Sie fühlten sich von Sünde befreit. Doch das änderte sich, als die organisierte Kirche entstand. Plötzlich wurde den Menschen erzählt, sie seien arme Sünder und Jesus sei für ihre Sünden gestorben. Aus dem Geschenk der Befreiung wurde eine schwere Last: Die Menschen sollten sich schämen – für alles, was sie taten oder dachten. Schuld, Sünde, Scham: Die drei „S“ wiegen schwer. Und mit der Zeit kamen immer neue hinzu – ein echtes Minus auf dem Karma-Konto.
Diese Botschaft kann erdrückend sein. Scham pur! Der Bewusstseinsforscher David Hawkins beschreibt Scham sogar als einen der niedrigsten Zustände des menschlichen Bewusstseins. Hawkins? Da war doch was… Richtig, neben seinen spannenden Modellen zur Bewusstseinsentwicklung hat er auch die Kinesiologie begründet – eine Pseudowissenschaft, aber das ist ein anderes Thema.
Was bleibt: In seiner Einteilung der Bewusstseinsstufen stehen Scham und Schuld ganz unten – und davon gab (und gibt) es laut der organisierten Kirche mehr als genug. Das spüren wir bis heute.
Es ist verständlich, dass organisierte Religionen möglicherweise ein Interesse daran hatten – und vielleicht immer noch haben –, Menschen in einem Zustand der Schuld zu halten. Denn wer es schafft, anderen Schuldgefühle einzureden, erzeugt Abhängigkeit: Abhängigkeit von der Institution, die allein Vergebung oder Absolution verspricht. Die Vorstellung, dass jemand vor 2000 Jahren für unsere heutigen Sünden gestorben ist und wir uns deshalb schuldig fühlen sollten, kann problematisch sein. Sie schafft ein Machtgefälle und bindet Menschen an religiöse Strukturen – durch das Versprechen von Erlösung.
Doch sollte nicht vielmehr die Botschaft von Liebe, Mitgefühl und persönlicher Verantwortung im Vordergrund stehen? Vielleicht ist es an der Zeit, diese Erzählung zu hinterfragen und den Fokus auf die positiven Aspekte des Glaubens zu legen – auf das, was uns stärkt und inspiriert statt uns niederzudrücken.
Wenn wir uns nun fragen, wie Gott wirklich ist – vorausgesetzt, es gibt eine göttliche Kraft oder ein universelles Bewusstsein –, dann stellt sich doch die Frage: Glaubst du wirklich, dass Gott an einem Menschen interessiert ist, der gebückt und voller Schuld durchs Leben geht? Der sich ständig sündig fühlt und mit schlechtem Gewissen durchs Dasein schleppt? Ist es vorstellbar, dass die schöpferische Kraft des Lebens, die uns alle hervorgebracht hat, möchte, dass wir uns klein und schuldig fühlen? Oder gar erwartet, dass wir glauben sollen, jemand hätte vor 2000 Jahren unsere „Arbeit“ übernommen und sei für unsere Fehler ans Kreuz gegangen?
Für mich ergibt diese Vorstellung keinen Sinn. Sie reduziert das Leben auf eine Geschichte von Schuld und Sühne und nimmt dem Einzelnen die Verantwortung für sein eigenes Handeln. Verantwortung – ein großes Wort, das auch heute noch aktuell ist. Wie oft schieben wir die Verantwortung ab: auf den Staat, der uns versorgen soll (doch wer finanziert eigentlich den Staat? Richtig, wir alle). Niemand fühlt sich mehr wirklich zuständig, weil alles irgendwie im großen Ganzen aufgeht. Alles wird gleichgemacht, und wer es wagt, anders zu denken oder Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, steht schnell außen vor.
Doch zurück zum Kreuz: Wenn wir die Kreuzigung als Symbol betrachten, eröffnet sich ein ganz anderer Zugang. Für mich steht sie nicht für Schuld oder Opferbereitschaft im klassischen Sinne, sondern vielmehr für den Mut, zur eigenen Wahrheit zu stehen – selbst dann, wenn es unbequem wird. Das ist eine ganz neue Geschichte.
Jesus hatte am Tag vor seiner Kreuzigung mehrfach die Gelegenheit, seine Überzeugungen abzuschwächen oder diplomatischer zu formulieren. Er hätte versuchen können, sich aus der Situation herauszuwinden. Doch er blieb bei seiner Wahrheit. Er war bereit, für das einzustehen, was ihm heilig war – auch wenn das bedeutete, dafür ans Kreuz geschlagen zu werden.
Das ist eine kraftvolle Botschaft: Es geht darum, zu sich selbst zu stehen und den eigenen Weg zu gehen – auch gegen Widerstände.
Doch gerade in dieser Symbolik liegt eine Einladung: die Bereitschaft zu entwickeln, für das einzustehen, was dir wirklich wichtig ist – auch wenn es dich etwas kostet. Nicht aus Schuld heraus oder weil du dich minderwertig fühlst, sondern aus innerer Überzeugung und Liebe zum Leben selbst. Jesus wusste genau, was ihn erwartete, und dennoch hat er sich bewusst dafür entschieden, seinen Weg bis zum Ende zu gehen – selbst wenn das bedeutete, ans Kreuz geschlagen zu werden.
Ich persönlich habe keinerlei Interesse daran, physisch an ein Kreuz genagelt zu werden. Und wir wissen heute auch, dass die historischen Kreuzigungen vermutlich ganz anders abliefen als in den traditionellen Erzählungen. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass viele Details so nie stattgefunden haben. Doch wenn wir diese Geschichte als eine Art Traum oder Gleichnis betrachten – als ein Bild, das uns etwas Wesentliches über das Leben sagen will –, dann bekommt das Kreuz eine tiefere symbolische Bedeutung.
Das Kreuz steht für einen festen Punkt im Leben, an dem du dich festmachst; einen Moment, in dem du dich klar positionierst und bereit bist, für deine Wahrheit einzustehen.
Und genau hier liegt eine wertvolle Erkenntnis verborgen: Es geht nicht darum, Schuldgefühle zu erzeugen oder sich kleinzumachen. Im Gegenteil – diese Symbolik kann uns beide in unsere Kraft bringen. Sie lädt uns ein, Verantwortung für unser eigenes Leben zu übernehmen und mutig für das einzustehen, was uns wirklich wichtig ist. Nicht aus Angst oder Schuld heraus, sondern aus innerer Überzeugung und Stärke. Das ist die eigentliche Botschaft von immensem Wert: Die Bereitschaft, sich auf das Wesentliche festzulegen und daraus Kraft zu schöpfen – frei von Schuld und voller Selbstermächtigung.
Es gibt im Leben immer wieder Momente, in denen es an der Zeit ist, nicht mehr auszuweichen oder sich zu verstecken. Es sind diese Augenblicke, in denen wir gefordert sind, im sprichwörtlichen Feuer zu stehen und für unsere eigene Wahrheit einzustehen – auch wenn es unbequem oder herausfordernd wird.
Ein Beispiel dafür ist die Treue in einer Partnerschaft. Angenommen, du entscheidest dich ganz bewusst dafür, deinem Partner oder deiner Partnerin sexuell treu zu sein. Idealerweise hast du diese Entscheidung gut durchdacht und kennst deine Gründe dafür genau. Auch hier wird es Momente geben, in denen Versuchungen auftauchen oder alte Muster sich melden. Ohne einen inneren Ankerpunkt – ohne dieses symbolische Kreuz, an dem du dich festmachst und das dich an deine Werte erinnert –, besteht die Gefahr, dass du ins Schwanken gerätst.
Es geht darum, Verantwortung für dein Handeln zu übernehmen und konsequent bei deinen Überzeugungen zu bleiben. Das erfordert Mut und Klarheit – aber genau darin liegt die Kraft: Nicht aus Schuld heraus etwas zu tun oder zu lassen, sondern weil du weißt, was dir wirklich wichtig ist und wofür du einstehen möchtest. Es geht nicht darum, aus Angst oder Pflichtgefühl zu handeln, sondern aus einem wirklich heiligen, tiefen Grund heraus.
Und dann kommt irgendwann im Leben dieser Moment – zum Beispiel auf einer Betriebsfeier: Du hast ein bisschen Alkohol getrunken und plötzlich spürst du eine starke Anziehung zu jemand anderem. Wenn du in diesem Moment kein inneres Kreuz hast, an das du dich „nageln“ kannst – also keinen festen Entschluss, deiner Wahl treu zu bleiben, egal was gerade in deinem Körper passiert –, dann ist die Versuchung groß, „herunterzuspringen“ und deinen Impulsen nachzugeben.
Oder stell dir vor, es ist an der Zeit, in der Öffentlichkeit für deine Wahrheit einzustehen. Du weißt genau, dass diese Wahrheit unbequem ist. Vielleicht bist du versucht zu sagen: „Ach, ich spreche jetzt einfach nicht darüber.“ Du weichst aus, verpackst deine Wahrheit ein bisschen netter – und auch hier springst du von deinem Kreuz herunter.
Diese „Kreuzigung“, dieses Festgenagelt-Sein an unsere tiefsten Werte und Entscheidungen, wird uns im Leben immer wieder angeboten – davon bin ich zutiefst überzeugt. In kleinen wie in großen Momenten stellt sich die Frage: Bin ich bereit, auf Gewalt zu verzichten und stattdessen alles zu fühlen? Bin ich bereit, Einsamkeit auszuhalten und sie wirklich zu spüren? Bin ich bereit, im Angesicht einer Krankheit den Schmerz voll anzunehmen? Bin ich bereit, wenn mich jemand provoziert, darauf zu verzichten zurückzuschlagen – und die Ohnmacht auszuhalten?
Wir alle haben diese inneren Kreuze. Und jedes Mal, wenn wir von diesem Kreuz herunterspringen – weil es zu unbequem ist, weil es weh tut oder weil wir Angst davor haben, unser kleines Ego loszulassen –, verpassen wir die Gelegenheit, in einem größeren und freieren Selbst wiedergeboren zu werden. Das ist es letztlich auch, was Jesus widerfahren ist – in einem wahrhaft biblischen Ausmaß. Es geht nicht nur darum, unbequeme Gefühle auszuhalten; es geht darum, das größte Opfer auf menschlicher Ebene zu bringen: Er war bereit zu sterben für das, was ihm wirklich heilig war. Das ist die ultimative Bereitschaft zur Hingabe an die eigene Wahrheit – selbst wenn sie alles kostet.
Haben wir in diesem Leben etwas gefunden, wofür wir – im Ernstfall – bereit wären zu sterben? Und damit ist nicht nur das physische Sterben gemeint, sondern auch das emotionale, geistige oder soziale „Sterben“: den Mut, alte Identitäten, Sicherheiten oder Zugehörigkeiten loszulassen, wenn es um etwas wirklich Wesentliches geht.
Hast du etwas in deinem Leben gefunden, das dir so heilig ist, dass du bereit bist, dich dafür ans Kreuz zu nageln? Vielleicht ist es die Liebe zur Wahrheit. Vielleicht die Liebe zu deinen Kindern. Vielleicht die Liebe selbst. Und dann stellt sich die nächste Frage: Wie kann ein Mensch je erfahren, wer er wirklich ist, wenn er immer dann vom Kreuz springt, wenn es unbequem wird? Wenn er sich nie festnageln lässt an seine tiefste Entscheidung?
Es gibt diese großen Momente im Leben – existenzielle Prüfungen –, aber genauso gibt es die kleinen alltäglichen Situationen. Ein banales Beispiel: Du entscheidest dich aus einem wichtigen Grund (zum Beispiel als Vorbild für deine Kinder), mit dem Rauchen aufzuhören. Dann kommt der Moment der Versuchung. Wenn du keinen heiligen Grund hast, der dich an deiner Wahl festhält – kein inneres Kreuz –, dann gibst du nach und rauchst wieder.
Es geht hier nicht um Moral oder darum, sich selbst zu verurteilen. Es geht um eine viel größere Frage: Willst du in diesem Leben herausfinden, wie powervoll du wirklich bist?
Denn jedes Mal, wenn du auf deinem Kreuz bleibst – wenn du bei deiner Entscheidung bleibst, trotz Schmerz oder Unbequemlichkeit –, wächst deine innere Kraft und Klarheit. Du erfährst dich selbst als jemanden, der für etwas steht; als jemanden, der sich nicht von jedem Windstoß abbringen lässt. Und vielleicht ist genau das der Weg zur eigenen Größe und Freiheit: Nicht vor dem Schmerz davonlaufen oder vor der Angst kapitulieren, sondern standhalten – und erleben, dass dahinter eine neue Dimension von Selbst-Bewusstsein und Lebendigkeit wartet.
Die eigentliche Frage lautet also: Was ist dir so heilig in deinem Leben, dass du bereit bist, alles andere dafür loszulassen? Und bist du bereit herauszufinden, wie viel Kraft und Wahrheit in dir steckt – gerade dann, wenn es unbequem wird? Das ist keine leichte Aufgabe. Aber sie führt uns mitten ins Herz des Lebens.
Das Beispiel von Nelson Mandela macht deutlich, was es heißt, für die eigene Wahrheit einzustehen – auch wenn der Preis hoch ist. Er hätte sich durch eine Unterschrift befreien können, aber er wusste: Das wäre Verrat an seiner Überzeugung, an seinem tiefsten Wert. Also blieb er im Gefängnis. Das war sein Kreuz.
Wo in deinem Leben bist du bisher vom Kreuz gesprungen? Und bist du dir bewusst, dass du – solange du immer wieder springst, sobald es unbequem wird – nie wirklich erfahren wirst, wer du in deiner Tiefe bist? Es geht nicht um Schuld oder Selbstverurteilung. Es geht um Mut und Wahrhaftigkeit. Es geht darum, sich nicht mit einfachen spirituellen Antworten zufriedenzugeben („Alles ist Licht und Liebe“), sondern anzuerkennen: Wir leben auf einem dualen Planeten. Hier gibt es Schmerz und Freude, Angst und Mut, Versuchung und Standhaftigkeit.
Wenn du herausfinden willst, wer du wirklich bist, dann braucht es die Bereitschaft, dich an dein Kreuz zu nageln – also bei deiner tiefsten Wahrheit zu bleiben, auch wenn es weh tut oder dich alles kostet. Manchmal bedeutet das einfach nur: länger im Feuer stehen zu bleiben als andere Menschen; nicht sofort nach dem Ausweg zu suchen.
Und ja: Es ist total menschlich und legitim – wie Jesus in der Nacht vor seiner Kreuzigung –, darum zu bitten: „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen.“ Niemand muss scharf darauf sein, Leid oder Schmerz auszuhalten. Aber wenn es das kostet, dann bereit zu sein, den Preis zu zahlen – das ist wahre Größe.
Für die meisten von uns bedeutet das nicht einmal große Taten oder Opfer im Außen. Meistens heißt es schlicht: die Bereitschaft zu fühlen. Die Ohnmacht aushalten. Die Angst spüren. Die Scham zulassen. Den Schmerz da sein lassen – ohne davor wegzulaufen. Das ist der Weg zur eigenen Kraft: Nicht weil wir perfekt sind oder nie scheitern würden, sondern weil wir immer wieder bereit sind, uns unserer Wahrheit zu stellen und sie auszuhalten.
Am Ende geht es um diese Frage: Bist du bereit herauszufinden, wer du wirklich bist? Und bist du bereit, dafür auch den Preis zu zahlen – manchmal einfach nur dadurch, dass du fühlst statt fliehst? Das ist keine leichte Aufgabe. Aber sie macht uns lebendig und echt.
Warum fällt es uns heute so schwer, wirkliche Nähe in Beziehungen zuzulassen? In unserer modernen Welt erleben viele Menschen große Schwierigkeiten, sich wirklich auf Beziehungen einzulassen – sei es in der Partnerschaft, in Freundschaften oder sogar im beruflichen Umfeld. Sobald wir jemandem näherkommen, werden oft tief verborgene Ängste berührt. Alte Verletzungen steigen an die Oberfläche: Schmerz, Wut, Ohnmacht. Diese Gefühle sind unangenehm und fordern uns heraus. Sie machen uns verletzlich.
Was passiert dann? Viele von uns wählen den Weg des geringsten Widerstands: Wir rennen weg – manchmal ganz konkret, indem wir die Beziehung beenden oder uns emotional verschließen. Oder wir verleugnen unsere Gefühle und tun so, als wäre alles in Ordnung. Manchmal schleudern wir auch unsere Wut dem anderen entgegen, um den inneren Druck loszuwerden. Doch all diese Strategien haben eines gemeinsam: Wir verlassen den Ort der echten Begegnung und Transformation. Wir „springen vom Kreuz“ – wir weichen dem Feuer aus, das uns verwandeln könnte.
Das gleiche Muster zeigt sich auch bei großen Projekten oder Herzenswünschen: Vielleicht hast du ein großes Ziel oder einen Traum. Du weißt eigentlich genau, was du willst – aber wenn es darauf ankommt, bist du nicht bereit, morgens früher aufzustehen und dafür zu kämpfen. Auch das ist ein Moment, in dem du vom Kreuz springst: Du weichst der Herausforderung aus und bleibst lieber im Gewohnten.
Die zentrale Frage lautet also: Wo in deinem Leben bist du bereit, dich festzunageln? Wo bist du bereit zu sagen: „Ich bleibe in diesem Feuer stehen – selbst wenn etwas in mir stirbt“? Denn das ist der Preis für echte Entwicklung: Wenn du wirklich herausfinden willst, wer du bist, musst du bereit sein, dein altes Ich immer wieder sterben zu lassen. Das bedeutet nicht unbedingt große äußere Opfer – oft geht es einfach darum, unangenehme Gefühle auszuhalten und nicht davor wegzulaufen.
Die Sufis bringen es auf den Punkt: „Stirb, bevor du stirbst.“ Sie meinen damit die Bereitschaft zur inneren Transformation – dazu, immer wieder loszulassen und dich freiwillig Situationen auszusetzen, die dich herausfordern und wachsen lassen.
Der Scheiterhaufen als Bild für Transformation
Stell dir vor, du baust dir freiwillig einen Scheiterhaufen – zum Beispiel durch eine radikal ehrliche Beziehung oder ein Projekt, das dich an deine Grenzen bringt. Du stellst dich darauf und zündest das Feuer an. Dafür brauchst du einen heiligen Grund – etwas Größeres als dein kurzfristiges Wohlbefinden oder deine Bequemlichkeit.
Unsere westliche Spiritualität scheut das Feuer
In unserer westlichen Wohlstandsgesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten eine ganz eigene Form von Spiritualität entwickelt. Sie ist geprägt von dem Wunsch, dass Entwicklung leicht, angenehm und möglichst schmerzfrei verlaufen möge. Viele spirituelle Angebote versprechen schnelle Erleuchtung, Heilung oder inneren Frieden – oft ohne die Bereitschaft, sich wirklich mit den eigenen Schattenseiten auseinanderzusetzen.
Ken Wilber, ein bedeutender Denker der integralen Philosophie, spricht in diesem Zusammenhang von der „Flachland-Spiritualität“. Damit meint er eine Spiritualität, die zwar viele Methoden und Techniken kennt, aber kaum noch Tiefe besitzt. Sie bleibt an der Oberfläche, weil sie das Unangenehme meidet: Schmerz, Zweifel, Ohnmacht oder existenzielle Krisen werden ausgeblendet oder als „niedrige Schwingungen“ abgewertet. Stattdessen wird oft suggeriert: Wenn du nur richtig denkst oder meditierst, kannst du alles Negative vermeiden.
Doch diese Haltung führt dazu, dass wir uns selbst betrügen. Wir wollen Transformation ohne Preis – Wachstum ohne Krise – Licht ohne Schatten. Das Leben aber funktioniert anders: Echte Reifung entsteht immer dort, wo wir bereit sind, auch durch das Dunkle zu gehen; wo wir nicht vor dem Feuer davonlaufen, sondern es bewusst durchschreiten.
Der Kult um den Guru: Projektion statt Eigenverantwortung
Ein weiteres Phänomen unserer Zeit ist die Tendenz, spirituelle Lehrer oder Gurus zu idealisieren – am liebsten solche, die schon tot sind und uns nicht mehr herausfordern können. Wir projizieren unsere Sehnsucht nach Weisheit und Erlösung auf diese Figuren und hoffen insgeheim darauf, dass sie uns den Weg abnehmen oder uns vor dem eigenen Schmerz bewahren. Solange der Guru fern oder vergangen ist, bleibt er ein unerreichbares Idealbild. Wir können ihn verehren und seine Lehren zitieren – aber wir müssen uns nicht wirklich mit unseren eigenen Themen auseinandersetzen. Es entsteht eine bequeme Distanz: Der Guru hat das Kreuz getragen; wir selbst bleiben Zuschauer.
Diese Dynamik kann sehr subtil sein. Auch moderne Coaches oder spirituelle Influencer werden manchmal zu Projektionsflächen für unsere Wünsche nach Heilung und Abkürzung. Doch wahre Transformation geschieht nie durch Nachahmung oder blinden Glauben an einen anderen Menschen – sie beginnt immer dort, wo wir selbst Verantwortung übernehmen und bereit sind, unser eigenes Kreuz zu tragen.
Und wenn du so mutig bist zu sagen: „Ich will wissen, wer ich wirklich bin“, dann wird das Leben dich prüfen. Es wird dir alles nehmen wollen, was nicht wirklich zu dir gehört: Sicherheiten, Besitzstände, Beziehungen oder angenehme Gefühle können auf die Probe gestellt werden. Jedes Mal stehst du an einer Weggabelung: Bleibst du am Kreuz? Hältst du das Feuer aus? Oder springst du herunter und suchst dir einen leichteren Weg?
Hier ist dein Textabschnitt stilistisch überarbeitet und an die bisherigen Passagen angepasst:
Die Einladung zur Tiefe
Echte Spiritualität fordert uns heraus. Sie lädt uns ein, nicht nur das Angenehme zu suchen, sondern auch das Unbequeme zuzulassen: Uns mit unseren Ängsten zu konfrontieren, alte Wunden anzuschauen, im Feuer stehenzubleiben statt davor wegzulaufen. Das bedeutet nicht Selbstkasteiung oder unnötiges Leiden um des Leidens willen. Es geht vielmehr darum zu erkennen: Wachstum kostet etwas. Wer wirklich wissen will, wer er ist – wer sich nach echter Freiheit sehnt –, muss bereit sein, durch die Tiefen des eigenen Menschseins zu gehen.
Die Einladung zur radikalen Ehrlichkeit: Bist du wirklich an Wahrheit interessiert?
An dieser Stelle möchte ich dich zu einer ehrlichen Selbstbefragung einladen. Es ist leicht, von Wahrheit zu sprechen oder sich als Suchenden zu bezeichnen. Doch was bedeutet es wirklich, an echter Wahrheit interessiert zu sein? Und wie zeigt sich das in deinem Leben?
Stell dir folgende Fragen:
- Lebst du ein Leben, das dich wirklich konfrontiert? Oder hast du dir eine Komfortzone geschaffen, in der du unangenehmen Wahrheiten aus dem Weg gehst? Ein Leben, das dich konfrontiert, ist eines, in dem du immer wieder mit deinen eigenen Grenzen, Ängsten und Schattenseiten in Berührung kommst.
- Hast du Menschen um dich, die dir ehrliches und präzises Feedback geben – auch wenn es weh tut? Wahre Freunde oder Partner sind nicht diejenigen, die dir nach dem Mund reden oder dich schonen. Sie sind bereit, dich ans sprichwörtliche Kreuz zu nageln – indem sie dir spiegeln, wo du unehrlich bist, wo du dich selbst betrügst oder wo du noch nicht ganz aufrichtig bist.
- Gibt es Herausforderungen in deinem Leben, die dich ins Feuer stellen? Suchst du bewusst Situationen auf, die dich fordern und wachsen lassen? Oder weichst du ihnen aus und suchst lieber den leichten Weg?
- Hast du Beziehungen, die so nah sind, dass sie dich all deine Illusionen kosten könnten? Echte Nähe bedeutet immer auch Gefahr: Die Gefahr, entlarvt zu werden; die Gefahr, dass deine Masken fallen; die Gefahr, dass dein altes Ich stirbt.
Die zentrale Frage lautet: Wo in deinem Leben ist es Zeit geworden, dein altes Ich – dieses kleine Ich voller Angst und Bequemlichkeit – auf das Kreuz deines heiligen Grundes zu nageln? Wo bist du bereit zu sagen: „Ich lasse los. Ich bin bereit für Transformation. Ich will wissen, wer ich wirklich bin – auch wenn es mich alles kostet“?
Die erste Säule moderner Mystik: Ernsthaftigkeit und Motivation
Hier kommen wir zum ersten Kernpunkt einer modernen Mystik zurück: Deine Motivation. Wenn du dich dem Thema Mystik näherst – also der Suche nach tiefer Wahrheit und echter Erfahrung –, dann musst du ehrlich mit dir selbst sein. Meinst du es wirklich ernst? Oder ist Spiritualität für dich nur ein Spielplatz für neue Erfahrungen und schöne Gefühle?
Wenn deine Motivation nicht geklärt ist – wenn du eigentlich gar nicht wirklich bereit bist für Veränderung –, dann bleibt alles an der Oberfläche. Dann wird Spiritualität zum Zeitvertreib oder zur Flucht vor dem Alltag. In diesem Fall ist es viel bequemer und naheliegender, Jesus am Kreuz hängen zu lassen: Er hat ja schon alles für uns erledigt! Wir können ihn verehren und ihm den Platz des Leidens überlassen – ohne selbst durch unser eigenes Feuer gehen zu müssen.
Doch das ist nicht die eigentliche Botschaft. Die Figur am Kreuz fragt uns immer wieder: Bist DU bereit? Bist DU bereit, für das einzustehen und festgenagelt zu werden, was dir heilig ist? Bist DU bereit, dein kleines Ich loszulassen zugunsten einer größeren Wahrheit?
Das ist der Ruf der echten Mystik: Nicht zuschauen, sondern selbst ins Feuer treten. Nicht delegieren, sondern Verantwortung übernehmen. Nicht nur glauben, sondern erfahren.
Und ich gebe zu: Auch ich bin da noch mitten im Prozess.
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